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Zwischen Niedrigzinsen und Anleihekäufen – Steckt die europäische Geldpolitik in einer Sackgasse?

Rede von Sabine Lautenschläger, Mitglied des Direktoriums der EZB und stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsgremiums der EZB, Universität Hohenheim, Stuttgart, 9 Oktober 2017

Sehr geehrte Damen und Herren,

Notenbanker könnten so ein angenehmes und ruhiges Leben führen. Sie sind unabhängig; sie haben ein klares Ziel – Preisstabilität –; und sie haben ein mächtiges Werkzeug, um dieses Ziel zu erreichen – den Zins.

In diesem Sinne hat Mervyn King im Jahr 2000 festgestellt, dass „eine erfolgreiche Zentralbank langweilig sein sollte.“ Hinzugefügt hat er, dass eine Zentralbank „wie ein Schiedsrichter sein sollte, dessen Erfolg daran gemessen wird, wie wenig seine Entscheidungen das Spiel selbst beeinflussen.“

Das ist jetzt allerdings auch schon 17 Jahre her. Und wir alle wissen, dass die Geschichte sich innerhalb eines Augenblicks ändern kann.

Und genau das hat sie im Herbst 2008 getan, als die Finanzkrise ausbrach. In der Rückschau, die ja bekanntermaßen die einfachere ist, hätte man die Signale früher erkennen können. Ein gutes Jahr lang konnte man im Finanzsystem leichte Vorbeben spüren.

Aber am 15. September 2008 kam dann das große Beben. Das war der Tag, an dem eine amerikanische Investmentbank scheiterte: Lehman Brothers.

Und entgegen aller Erwartungen griff die Regierung nicht ein, um die Bank zu stützen. Das war im Grundsatz eine vernünftige Entscheidung, aber es schickte die Märkte in die Hölle. Panik brach aus.

Innerhalb von wenigen Tagen breitete sich die Krise auf der ganzen Welt aus und schob das Finanzsystem an den Rand eines tiefen Abgrunds.

Die Situation stabilisierte sich schließlich, aber das war nicht das Ende der Geschichte. Im Kielwasser der Finanzkrise geriet die Weltwirtschaft in einen Strudel, die „große Rezession“. Kurz darauf machte der Euro-Raum eine Schulden- und Bankenkrise durch.

Und das Leben der Notenbanker? Das veränderte sich. Entgegen der Idee von Mervyn King wurden Zentralbanken von Schiedsrichtern zu Mitspielern. Eine Zeit lang schien es sogar so, als seien sie die einzigen Spieler auf dem Feld – immer dann, wenn die Politik nicht in der Lage zu sein schien, rasch zu reagieren.

Die Notenbanker wurden zu Krisenmanagern. Für die EZB bedeutet das, dass ihr Ziel gleich blieb. Nach wie vor lautete es „Preisstabilität“. Aber es war plötzlich sehr schwierig geworden, dieses Ziel zu erreichen.

Die EZB musste tiefer in ihren Werkzeugkasten greifen als jemals zuvor. Sie musste alte Werkzeuge neu interpretieren und völlig neue Werkzeuge erfinden.

All das hat Einige etwas beunruhigt. Gerade hier in Deutschland finden viele die neue Rolle und die neuen Werkzeuge der EZB riskant. Sie sorgen sich unter anderem, dass die niedrigen Zinsen künftigen Wohlstand und die Altersvorsorge zerstören könnten.

Im Gegensatz dazu wird die EZB außerhalb Deutschlands oft dafür respektiert, dass sie während der Krise so entschlossen gehandelt hat. Dort steht im Mittelpunkt, dass die EZB Schlimmeres verhindern konnte. Einige fanden vermutlich sogar, dass die EZB noch mehr hätte tun sollen.

Und wer hat nun Recht? Hat die EZB den Euro gerettet und Europa vor einer noch viel schlimmeren Krise bewahrt? Oder ist sie zu weit gegangen und in einer Sackgasse gelandet, aus der es eventuell kein Zurück gibt?

Das ist eine komplizierte Frage. Denn während sie sich scheinbar auf die Vergangenheit richtet, liegt die Antwort in der Zukunft.

Lassen Sie uns also drei Dinge tun.

Lassen Sie uns erstens in die Vergangenheit blicken und die Frage beantworten, was bisher passiert ist?

Lassen Sie uns zweitens auf die Gegenwart blicken und die Frage beantworten, wohin es uns geführt hat?

Und lassen Sie uns drittens in die Zukunft blicken und die Frage beantworten, wohin wir gehen.

Beginnen wir mit der Vergangenheit.

Die Vergangenheit – Neue Herausforderungen, neue Werkzeuge

Die Vergangenheit ist in diesem Fall der 15. September 2008 – der Tag, an dem Lehman Brothers scheiterte. Dieses Ereignis war der Todesstoß für etwas, das ohnehin schon schwer verwundet war: Vertrauen.

Banken auf der ganzen Welt sorgten sich plötzlich über ihr Engagement in Hypothekenkrediten aus dem so genannten Subprime-Segment. Mit Hilfe neuer Finanzinstrumente hatten sich die Risiken aus diesen Krediten über den ganzen Bankensektor verteilt – auf eine sehr undurchsichtige Art und Weise.

Banken wussten nicht, wie viele dieser Risiken in den Bilanzen ihrer Geschäftspartner steckten. Und sie wussten nicht, wie sie diese Risiken in ihren eigenen Büchern bewerten sollten.

Banken verloren das Vertrauen; sie hörten auf, einander Geld zu leihen, und der Interbankenmarkt brach zusammen. Selbst gesunde Banken gerieten in Gefahr, illiquide zu werden und zu scheitern.

Und das war ein ernstes Problem, wenn Sie bedenken, wie wichtig Banken für die Wirtschaft sind. Ein Zusammenbruch des Bankensystems wäre tödlich gewesen für die Wirtschaft.

Ein Zusammenbruch des Bankensystems wäre auch ein Problem für die Geldpolitik geworden und damit für die Preisstabilität. Immerhin wirkt traditionelle Geldpolitik hauptsächlich durch die Banken.

In dieser Lage hat die EZB eines der klassischen Instrumente von Notenbanken angewandt. Sie trat als Kreditgeber letzter Instanz auf, als lender of last resort.

Sie verschaffte Banken unbeschränkten Zugang zu Liquidität mit längeren Laufzeiten und akzeptierte dafür eine breitere Auswahl an Sicherheiten. Und sie begann, gedeckte Schuldverschreibungen zu kaufen – eine wichtige Refinanzierungsquelle für Banken. Das Ziel der EZB war es, gesunde Banken am Leben zu halten. Die Banken zu stabilisieren, war entscheidend, um die Preisstabilität zu wahren.

Aber als Kreditgeber der letzten Instanz kann die EZB nur eines tun: Sie kann die Banken mit Liquidität versorgen.

Was sie nicht tun kann und auch nicht tun darf, ist deren tiefer liegende Probleme zu lösen. In 2008 waren die Bilanzen vieler Banken immer noch voll mit faulen Krediten. Die Probleme dieser Banken gingen also weit über einen Mangel an Liquidität hinaus; sie waren kurz davor zu scheitern.

Das war der Moment, in dem Regierungen auf den Plan traten, um die Banken zu retten und zu verhindern, dass das gesamte Finanzsystem zusammenbrach.

Das ließ allerdings den Berg aus Staatsschulden weiter wachsen, den viele Regierungen in den Jahren zuvor aufgehäuft hatten. Und dieser Berg wurde für einige Länder schließlich zu hoch. Die Bühne war bereitet für die zweite Phase der Krise.

Im Jahr 2010 begannen die Märkte sich Sorgen zu machen, dass der griechische Staat seine Schulden nicht zurückzahlen könnte. Die Staatsschuldenkrise hatte begonnen. Sie weitete sich auf andere Länder aus. Portugal, Irland, Spanien und Italien mussten, teils aus unterschiedlichen Gründen, mit steigenden Zinsen für ihre Staatsschulden kämpfen. Das vergrößerte noch die Sorgen über ihre Staatsfinanzen und wieder einmal waren die Banken in Gefahr. Dieses Mal, weil sie sehr viele Staatsanleihen in ihren Bilanzen hatten.

Außerdem sind Staatsanleihen eine wichtige Richtschnur für die Kreditkosten des Privatsektors. Die Märkte belegten auch den Privatsektor derjenigen Länder, deren Staatsfinanzen sie kritisch bewerteten, mit einer Risikoprämie. Und plötzlich mussten griechische Unternehmen viel höhere Zinsen zahlen als identische deutsche Unternehmen.

Ein Finanzmarkt, der über Jahre hinweg zusammengewachsen war, brach auseinander, in immer kleinere Teile. Und das machte es immer schwieriger, eine einheitliche Geldpolitik zu betreiben. Wieder einmal musste die EZB einschreiten, um eine effektive Geldpolitik sicherzustellen. Sie legte ein Programm für Wertpapiermärkte auf und begann, Staatsanleihen zu kaufen.

Eine gewisse Zeit lang bremste dieses Programm den unkontrollierten Anstieg der Zinsen auf Staatsanleihen. Das wiederum sorgte dafür, dass die Geldpolitik weiter funktionierte.

Aber im Jahr 2012 wurde klar, dass es mehr brauchte als das. Die Märkte waren einen Schritt weiter gegangen. Sie hatten begonnen, ein Auseinanderbrechen des Euro-Raums einzupreisen. Die Zinsen auf Staatsschulden schossen weiter in die Höhe und die Banken gerieten in Schwierigkeiten.

In dieser Lage kündigte die EZB an, innerhalb ihres Mandats alles zu tun, was notwendig sei, um den Euro zu bewahren – „whatever it takes“.

Etwas konkreter erklärte sie sich bereit, Staatsanleihen einzelner Länder zu kaufen. Dieses Programm wurde OMT getauft, Outright Monetary Transactions. Das OMT unterlag natürlich engen Voraussetzungen; die Details erspare ich Ihnen.

Aber von Beginn an wurde es als Wendepunkt bezeichnet. Es brachte das Vertrauen zurück in den Euro-Raum und musste genau deshalb bisher gar nicht aktiviert werden.

Aber die Wirtschaft des Euro-Raums steckte immer noch in einer Rezession; sie wuchs immer langsamer. Die Krise war in ihrer dritten Phase angekommen. Und als die Wirtschaft schwächer wurde, ging die Inflation zurück.

Um sie wiederzubeleben, senkte die EZB im Jahr 2013 zwei Mal die Zinsen bis zu einem neuen Tief von 0,25%. Aber im Jahr darauf fiel die Inflation weiter; im Dezember 2014 sogar unter die Grenze von 0%. Das war nicht zuletzt getrieben durch fallende Ölpreise.

Es wurde offensichtlich, dass die EZB mehr tun musste.

Sie musste verhindern, dass die niedrige Inflation sich festsetzte oder sogar zu einer Deflation wurde. Aber was konnte die EZB tun? Die Zinsen waren nahe der 0%-Grenze, und damit waren die üblichen Werkzeuge der Geldpolitik nur bedingt zu gebrauchen. Der EZB-Rat beschloss daher, drei unkonventionelle Werkzeuge zu benutzen.

Erstens durchbrach die EZB die 0%-Grenze der Zinsen. Im Juni 2014 senkte sie den Einlagenzins auf -0,10%. Das gab den Banken einen Anreiz, ihr Geld nicht länger bei der EZB zu lagern, sondern es anderswo als Kredite zu vergeben.

Gleichzeitig machte es den Märkten klar, dass die Zinsen sehr wohl in den negativen Bereich fallen können. Die Märkte passten daraufhin ihre Erwartungen über zukünftige Zinsen an. Und das wiederum führte dazu, dass auch die langfristigen Zinsen fielen.

Zweitens bot die EZB den Banken langfristige Refinanzierung zu sehr niedrigen Zinsen an. Der Betrag, den die Banken leihen konnten, hing davon ab, wie viele Kredite sie an Unternehmen und Haushalte vergaben. Das sollte die Banken dazu ermuntern, mehr Kredite an die Wirtschaft zu vergeben. Gleichzeitig sollte es für Unternehmen und Haushalte leichter werden, Kredite aufzunehmen.

Und drittens begann die EZB, eine Quantitative Lockerung zu betreiben – quantitative easing. Seit März 2015 hat sie öffentliche und private Anleihen im Wert von mehr als 2 Billionen Euro gekauft. Über verschiedene Hebel drückt das unter anderem die langfristigen Zinsen nach unten. Gleichzeitig machte die EZB deutlich, dass sie weiterhin dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist.

Die Gegenwart – Noch nicht ganz angekommen

Das waren die Maßnahmen, die ergriffen wurden. Aber wohin haben sie uns geführt? Ich denke, alle sind sich einig, dass sie uns in unbekanntes Terrain geführt haben.

Einige würden vielleicht argumentieren, dass sie uns dicht an die Grenzen des geldpolitischen Mandats geführt haben. Und ein paar würde vielleicht sogar argumentieren, dass sie uns über diese Grenzen hinaus geführt haben.

Gleichzeitig würden hier in Deutschland viele argumentieren, dass die Geldpolitik der EZB viele Probleme verursacht. Sie haben das Gefühl, dass die niedrigen Zinsen die Sparer bestrafen, den Banken schaden und unseren Wohlstand zerstören.

Es ist natürlich richtig, dass niedrige Zinsen viele Effekte haben. Einige dieser Effekte sind gewollt. Niedrige Zinsen machen es günstiger, sich Geld zu leihen, sie fördern Investitionen, beleben das Wirtschaftswachstum und schließlich auch die Inflation. Aber sie haben auch ungewollte Effekte; sie haben Nebenwirkungen.

Also ja, niedrige Zinsen bedeuten für den Sparer, dass sich sein Geld auf der Bank viel langsamer als zuvor vermehrt. Aber wir sind nicht nur Sparer. Und in unseren anderen Rollen profitieren wir von niedrigen Zinsen. Wer zum Beispiel einen Kredit braucht, um ein Haus zu bauen, der profitiert. Das gleiche gilt für alle, die einen Kredit brauchen, um ein Unternehmen zu gründen.

Es ist eine Tatsache, dass Geldpolitik Vermögen umverteilt. Das hat sie schon immer getan, und es liegt in der Natur der Sache. Niedrige Zinsen sind gut für alle, die Geld leihen, und schlecht für alle, die Geld sparen. Hohe Zinsen dagegen sind schlecht für Kreditnehmer und gut für Sparer.

Aber die EZB würde tatsächlich ihrem Mandat nicht gerecht werden, wenn diese Effekte sie davon abbrächten, für Preisstabilität zu sorgen. Die EZB ist zuständig für Preisstabilität und nur für Preisstabilität. Es liegt an den Regierungen und Parlamenten, sich um Verteilungspolitik zu kümmern.

Vor diesem Hintergrund war es gerechtfertigt, die Zinsen zu senken. Und davon abgesehen: was wäre die Alternative? Sparer hätten sich vielleicht zunächst über höhere Zinsen gefreut. Aber um sie herum wäre die Wirtschaft zusammengebrochen. Und mittel- und langfristig hätten dann auch die Sparer darunter gelitten.

Niedrige Zinsen haben noch andere Nebenwirkungen, die wir beobachten müssen. Unter anderem setzen niedrige Zinsen falsche Anreize. Sie können unter anderem zu Blasen auf den Finanzmärkten führen. Und wenn die platzen, leidet die Wirtschaft.

Also: Auch wenn die niedrigen Zinsen gerechtfertigt sind, haben sie Nebenwirkungen Und diese Nebenwirkungen werden mit der Zeit größer, während die gewollte Wirkung der expansiven Geldpolitik kleiner wird. Dasselbe gilt für die Anleihekäufe. Sie haben uns noch weiter in unbekanntes Terrain geführt. Sie wirken zwar wie gewünscht auf die Finanzmärkte, haben aber ähnliche Nebenwirkungen wie die niedrigen Zinsen. Und über die Zeit, können diese Nebenwirkungen sogar die Finanzstabilität gefährden. Letztlich werden wir die gesamten Kosten und den gesamten Nutzen unserer unkonventionellen Maßnahmen erst in vielen Jahren bemessen können.

Was das Heute angeht, könnten wir alle diese Dinge noch stundenlang diskutieren. Sie sind komplex, und sie sind wichtig. Sie betreffen die Rolle der Notenbank, ihre Macht und ihre Grenzen.

Da ist aber noch eine andere Frage, die ich gerne diskutieren würde. Und diese Frage ist ebenso wichtig. Sie lautet: Haben die Maßnahmen gewirkt? Haben sie uns unserem Ziel wieder näher gebracht – einer Inflationsrate von unter, aber nahe 2%?

Nun ja, ganz offensichtlich ist die Inflation noch ein Stück entfernt von unserem Ziel. Aber bedeutet das, dass die Geldpolitik gescheitert ist?

Nein, natürlich nicht. Die Geldpolitik beeinflusst die Preise niemals direkt. Zwischen einem geldpolitischen Impuls und veränderten Preisen liegen eine ganze Menge Schritte. Der Transmissionsmechanismus der Geldpolitik läuft über viele verschiedene Stufen.

Der erste Schritt ist, dass niedrige Zinsen, Anleihekäufe und andere Maßnahmen die Bedingungen an den Finanzmärkten beeinflussen. Sie sollten es Unternehmen und Konsumenten leichter machen, Geld zu leihen.

Und das ist genau das, was wir sehen. Seit 2014 sind die Kreditzinsen für Unternehmen und Haushalte deutlich gefallen – um 119 und 100 Basispunkte. Für kleinere und mittlere Unternehmen sind die Kreditzinsen sogar noch stärker gesunken – und das ist wichtig, denn diese Unternehmen stellen die meisten Arbeitsplätze.

Gleichzeitig haben sich die Kreditzinsen in verschiedenen Ländern wieder angenähert – der Finanzmarkt ist wieder stärker zusammengewachsen. Soweit hatten die Maßnahmen also den gewünschten Effekt.

Der zweite Schritt ist, dass die Bedingungen an den Finanzmärkten das Wirtschaftswachstum beeinflussen. Unternehmen können mehr investieren, Konsumenten können mehr kaufen, neue Arbeitsplätze entstehen und die Wirtschaft wächst.

Und auch das sehen wir. Wir schauen auf eine Wirtschaft, die seit 17 Quartalen wächst, und auf eine Arbeitslosenquote, die von gut 12% auf gut 9% gefallen ist.

Die Stimmung steigt und mit ihr die Nachfrage. Die Menschen in Europa konsumieren mehr und das stützt die Erholung. Und die Erholung beschränkt sich nicht auf ein paar Länder; es ist der gesamte Euro-Raum, der sich erholt.

Im dritten und letzten Schritt schließlich wirkt das höhere Wirtschaftswachstum auf die Preise. Wenn die Wirtschaft sich der Vollauslastung nähert, werden Produktionsfaktoren knapp. Es wird zum Beispiel schwieriger, Arbeitskräfte zu finden. Das treibt die Löhne nach oben, was wiederum die Unternehmen dazu veranlasst, die Preise zu erhöhen – und die Inflation kehrt zurück.

Und bei diesem dritten Schritt hängen wir ein wenig fest. Die Inflation zieht an, aber weniger als man erwarten würde. Die Frage ist also: was hält sie zurück, die Inflation?

Ein Faktor sind die Rohstoffpreise. Zwischen Januar 2014 und Januar 2016 sind die Ölpreise um gut 70% gefallen. Sie können sich vorstellen, wie das auf die Inflation wirkt. Es zieht vor allem die Gesamtinflation, die Energiepreise ja explizit berücksichtigt, nach unten. Es drückt aber auch die Kerninflation, weil Energie für die Herstellung so vieler Produkte und Dienstleistungen benötigt wird.

Aber es sind noch andere Faktoren, die die Inflation nach unten ziehen. Und diese Dinge finden wir auf dem Arbeitsmarkt. Denn Löhne spielen eine Schlüsselrolle für die Inflation. Wenn die Löhne steigen, steigt auch die Inflation. Im Moment steigen die Löhne aber nur langsam – obwohl die Wirtschaft sich gut erholt. Woran liegt das?

Eine Erklärung könnte sein, dass die Wirtschaft noch weiter von der Vollauslastung entfernt ist, als wir dachten. In diesem Fall wäre das Angebot an Arbeit weniger knapp, die Löhne würden nicht steigen, und das würde die Inflation bremsen. Und es sieht tatsächlich so aus, als ob die allgemeine Arbeitslosenquote freie Kapazitäten nicht richtig erfasst. Und wenn man auf breiter angelegte Arbeitslosenquoten schaut, dann sieht man tatsächlich, dass der Arbeitsmarkt noch nicht so eng ist, wie die allgemeine Arbeitslosenquote vermuten lässt.

Eine zweite Erklärung könnte sein, dass die Inflation nur mit Zeitverzögerung auf die Löhne wirkt. Die niedrige Inflation der Vergangenheit dämpft auch heute noch das Wachstum der Löhne. Und kompensiert die Erholung des Arbeitsmarktes zu einem gewissen Teil. Hier haben wir also einen weiteren Grund, warum die Löhne etwas langsamer auf das Wachstum der Wirtschaft reagieren als gewöhnlich.

Und dann ist da noch die Frage, ob sich vielleicht etwas Grundlegendes verändert hat. Ist die Inflation weniger empfindlich geworden, was Veränderungen in der Realwirtschaft angeht? Ist die Phillips-Kurve flacher geworden? Es sieht tatsächlich so aus, als sei die Phillips-Kurve während der Krise flacher geworden – Inflation reagiert langsamer auf Wirtschaftswachstum. Es ist aber gut möglich, dass die Kurve wieder steiler wird, wenn die Wirtschaft voll ausgelastet ist.

Und was bedeutet das alles jetzt? Im Kern bedeutet es, dass all die Faktoren, die die Inflation bremsen, das vermutlich nur temporär tun. Und das hat zwei Konsequenzen.

Erstens brauchen wir etwas Geduld. Die Inflation reagiert auf die wirtschaftliche Erholung; sie wird nur durch verschiedene Faktoren etwas gebremst. Mittelfristig wird sie aber zu unserem Ziel zurückkehren.

Es ist nur eine Frage der Zeit. Und diese Zeit haben wir, denn wir haben uns ja bewusst dafür entschieden, unser Ziel mit Blick auf die mittlere Frist zu definieren: Die Inflation soll mittelfristig unter, aber nahe 2% liegen.

Zweitens brauchen wir auch weiterhin eine expansive Geldpolitik, um die Inflation auf ihrem Weg hin zu unserem Ziel weiter zu unterstützen.

Bedeutet dies nun, dass all die geldpolitischen Maßnahmen so weiter gehen müssen, wie sie derzeit kalibriert sind? Müssen wir beispielsweise noch mehr Vermögenswerte auf unsere Bilanz nehmen? Ich denke nicht.

Ich denke es ist Zeit, im nächsten Jahr graduell aber vollständig die Nettokäufe von Anleihen zurückzuführen. Denn selbst wenn wir unsere Nettokäufe auslaufen lassen, wird die Geldpolitik weiterhin expansiv bleiben.

Das liegt daran, dass wir all die Erträge aus auslaufenden Anleihen reinvestieren. Das Gesamtvolumen bleibt also zunächst konstant und mit ihm der expansive Effekt. Hinzu kommt, dass die üblichen Werkzeuge der Geldpolitik natürlich auch weiterhin wirken.

Und das bringt uns zum letzten Teil meiner Rede: der Zukunft.

Die Zukuft – Sie kommt näher

Mit Blick in die Zukunft können wir also darauf vertrauen, dass die Inflation zu unserem Ziel zurückkehrt. Darum müssen wir uns aber auch Gedanken darüber machen, wie wir unsere unkonventionelle Geldpolitik beenden können. Wir müssen nach vorne schauen und den Ausstieg gestalten. Immerhin wird er zu einem Großereignis für die Märkte und die Wirtschaft.

Und das führt zu einem weiteren wichtigen Punkt: der Kommunikation. Für lange Zeit waren Notenbanken und Geldpolitik sehr undurchsichtig.

In den 1980er Jahren bemerkte Alan Greenspan zum Beispiel, dass er „Fedspeak“ lernen musste, als er Vorsitzender der amerikanischen Notenbank wurde. Er „lernte möglichst unzusammenhängende Dinge vor sich hinzumurmeln“. Damals waren Notenbanken sehr verschlossen, wenn es um ihre Geldpolitik ging. Und sie blieben im Ungefähren, wenn sie mit den Märkten sprachen.

Die Märkte mussten also auf Umwegen herausfinden, was die Notenbank plante. Und manche dieser Umwege waren ein wenig abseitig. Alan Greenspans Aktentasche war einer dieser Umwege.

Wann immer die amerikanischen Notenbanker sich trafen, um geldpolitische Entscheidungen zu treffen, haben die Märkte anscheinend genau auf den Umfang von Alan Greenspans Aktentasche geachtet. War die Tasche vollgestopft mit Papieren, schlossen die Märkte, dass die Zinsen verändert würden. War die Tasche schmal und leer, schlossen sie auf gleichbleibende Zinsen.

Letztlich waren das natürlich sehr unzuverlässige Methoden, um die Pläne der Notenbank zu erraten. Es konnte leicht passieren, dass Märkte die falschen Schlüsse zogen, und das konnte zu ungewollter Volatilität und zu Turbulenzen führen.

Das ist einer der Gründe, warum mittlerweile fast alle einig sind, dass Notenbanken transparent sein müssen. Es hilft ihnen, die Erwartungen der Märkte zu steuern, und es macht die Geldpolitik wirkungsvoller.

Gleichzeitig hilft es den Notenbanken, ihrer Rechenschaftspflicht nachzukommen. Beides ist mit Blick auf die unkonventionelle Geldpolitik noch wichtiger geworden.

Was unsere nächsten Schritte angeht, müssen wir also sehr sorgfältig kommunizieren. Wir müssen den Märkten helfen, eine Idee davon zu bekommen, wie der Ausstieg aussehen könnte.

Und wir dürfen sie nicht mit vagen oder widersprüchlichen Aussagen verwirren. Es ist eine schwierige Balance, die wir finden müssen. Und wir müssen sie jetzt finden.

Die Reihenfolge, in der wir unsere unkonventionellen Maßnahmen beenden werden, ist zum heutigen Zeitpunkt klar.

Der erste Schritt wird sein, den Nettoerwerb von Anleihen zurückzufahren. Die Zinsen dagegen werden weit über den Zeithorizont unseres Nettoerwerbs von Anleihen hinaus niedrig bleiben.

Was wir noch tun müssen, ist dieser Reihenfolge eine Zeitdimension zu geben. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass wir uns auch wirklich in Richtung Ausgang begeben – Schritt für Schritt, aber stetig und in eine klare Richtung.

Schluss

Meine Damen und Herren,

zu Beginn meiner Rede habe ich festgestellt, dass mit Blick auf Notenbanken die Ära der Langeweile vorüber ist. Und ich hoffe sehr, dass meine Rede kein Beleg für das Gegenteil war.

In einem bin ich aber sicher: Zentralbanken sind ins Scheinwerferlicht getreten und der Mittelpunkt einer öffentlichen Debatte geworden. Und es ist eine kontroverse Debatte.

Während einige argumentieren, dass die EZB die Krise gut gehandhabt hat, sind andere sehr viel kritischer. Wer hat nun Recht?

In meiner Rede habe ich argumentiert, dass angesichts der niedrigen Inflation die Geldpolitik expansiv sein musste. Über den notwendigen Grad an Expansion oder einzelne Instrumente kann man natürlich diskutieren.

Was wir aber auf jeden Fall bedenken müssen, ist, dass die unkonventionellen Maßnahmen Nebenwirkungen haben. Und diese werden umso größer, je länger die Maßnahmen andauern. Die endgültige Antwort auf unsere Frage, ob alle geldpolitischen Maßnahmen optimal ausgerichtet waren, liegt also in der Zukunft.

Wenn wir es schaffen, die unkonventionellen Werkzeuge wieder einzumotten, sobald die Zeit reif ist, dann war die EZB erfolgreich. Und für mich ist die Zeit reif. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir aus der unkonventionellen Geldpolitik aussteigen können. Und dann müssen wir es auch tun. Für mich ist klar: Wir müssen zu Beginn des kommenden Jahres damit beginnen, unsere Anleihekäufe zurückzufahren.

Der Ausstieg aus unserer unkonventionellen Geldpolitik wird das letzte Kapitel in der Geschichte der Krise sein. Danach können die Zentralbanken hoffentlich wieder zurückkehren zu ihrem ruhigen und langweiligen Leben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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