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Zentralbankunabhängigkeit auf dem Prüfstand

Beitrag von Yves Mersch, Mitglied des Direktoriums der EZB, für Handelsblatt, veröffentlicht am 5. Mai 2017

Zunehmend treten Kritiker auf den Plan, die die Unabhängigkeit von Zentralbanken in Frage stellen. Zwei Vorwürfe stehen dabei besonders im Raum: Erstens, mit dem Einsatz von unkonventionellen Maßnahmen wie dem Ankauf von Wertpapieren, als Quantitative Easing bekannt oder negativen Zinsen überdehnten sie ihr Mandat. Zweitens stößt auf Kritik, dass vielen Zentralbanken als Reaktion auf die Finanzkrise Befugnisse übertragen wurden, die über ihr traditionelles Mandat der Kaufkraftsicherung hinausgehen. Beispiele dafür sind die mikro- und makro-prudenzielle Aufsicht, also die Überwachung der Banken sowie des gesamten Finanzsystems, und die Teilnahme an den makro-ökonomischen Programmen in Krisenländern. Manchen nationalen Zentralbanken wurden zusätzlich Aufgaben zum, Verbraucherschutz sowie die Abwicklung maroder Banken übertragen – Funktionen, die der Staat zu erfüllen hat.

Mit Blick auf die Europäische Zentralbank (EZB) gehen beide Vorwürfe fehl und halten einer – insbesondere rechtlichen – Prüfung nicht stand. Auf beide gehe ich im Folgenden näher ein.

Der Frage nach der institutionellen Unabhängigkeit ist zunächst eine funktionale Analyse voranzustellen. Denn diese Unabhängigkeit stellt in der Tat eine Ausnahme von der Regel dar, dass die Exekutive demokratisch überwacht werden sollte. Insofern muss die Unabhängigkeit einer Zentralbank eng ausgelegt werden.

Zentralbanken wurde Unabhängigkeit eingeräumt, um sie bei der Gewährleistung von Preisstabilität vor kurzfristiger politischer Einflussnahme zu schützen. Diese Begründung ist weitgehend akzeptiert. Daran hat sich bis heute im Wesentlichen nichts geändert.

Was sich dagegen geändert hat, ist das Umfeld, in dem Zentralbank mitunter agieren müssen, um ihrem Mandat gerecht zu werden. Bankenkrisen, die Staatsschuldenkrise und sehr niedriger Inflationsdruck haben die EZB dazu genötigt, unkonventionelle Maßnahmen aufzulegen, um sicherzustellen, dass der geldpolitische Impuls die Realwirtschaft erreicht, obwohl die traditionellen Transmissionskanäle mitunter verstopft waren und Nullzinsgrenze erreicht bzw. unterschritten wurde.

Langfristige Kreditoperationen (einschließlich der Vollzuteilung bei Festzins, bei der das Eurosystem den Geschäftsbanken gegen Sicherheiten Zugang zu Krediten in Höhe der Nachfrage gewährt und "gezielte" Varianten, bei denen der Umfang an die Kreditvergabe der Bank gebunden ist), der direkte Ankauf von Wertpapieren in Verbindung mit Forward Guidance, also weit vorausschauender Kommunikation über die eigene Geldpolitik, und negativer Einlagenzins sind Beispiele für diese unkonventionelle Maßnahmen.

Die EZB bewegt sich mit den gewählten Maßnahmen auf solidem rechtlichem Grund. Wie der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil zu den Ankäufen von Anleihen (OMT-Programm) erläutert hat, verfügt die EZB bei ihren geldpolitischen Entscheidungen über ein „weites Ermessen“. Das heißt, sie ist nicht nur unabhängig, ihre geldpolitische Strategie festzulegen sowie das Preisstabilitätsziel zu quantifizieren. Zudem kann sie die geldpolitischen Instrumente ohne Einflussnahme Dritter festlegen, um Preisstabilität zu erreichen (instrumentelle Unabhängigkeit). Das bedeutet, es liegt im Ermessen der EZB, die im Primärrecht vorgesehenen Instrumente einzusetzen und zu spezifizieren. Neben dem klassischen Instrument der Leitzinsen sind das zum Beispiel Wertpapier-Käufe, einschließlich des Erwerbs von Staatsanleihen im Sekundärmarkt, sowie Veränderungen der Regeln bei der Akzeptanz von Sicherheiten und Auswahl der Geschäftspartner.

Etwas anders verhält es sich mit den neuen Aufgaben, die der EZB von außen aufgetragen wurden. Im Folgenden werde ich mich im Wesentlichen auf das Gebiet der Bankenaufsicht beschränken, da die Zuständigkeit für die Aufsicht über das Finanzsystem weitgehend bei den Einzelstaaten liegt. Zudem ist die geldpolitische Strategie der EZB so ausgestaltet, dass sie über ihre „monetäre Analyse“ auch der Analyse der Kreditentwicklung besondere Aufmerksamkeit schenkt. Sie berücksichtigt daher Trends an den Kreditmärkten in geldpolitischen Beschlüssen, selbst wenn die Inflation unverändert bleibt.

In der Tat ist es so, dass die Rechenschaftspflicht einer Zentralbank strikter ist, soweit sie Aufgaben der Bankenaufsicht übernimmt. Die Begründung hierfür ist, dass Entscheidungen über die Banken, den Steuerzahler belasten können. Die gesamte Finanzkrise hindurch mussten die Steuerzahler Banken retten, die auf nationaler Ebene beaufsichtigt wurden. Auch wenn die Kosten von Bankinsolvenzen nach der neuen Abwicklungsregelung der EU von den Anteilseignern und Gläubigern der Banken getragen werden sollen, besteht, wie gegenwärtig zu beobachten ist, nach wie vor die Möglichkeit staatlicher Finanzhilfen.

Als Konsequenz nun aber die Unabhängigkeit der EZB in Frage zu stellen, greift zu kurz. Denn die europäische Gesetzgebung sowie die organisatorische Ausgestaltung innerhalb der EZB trägt dieser funktionalen Unterscheidung dadurch Rechnung, dass die Geldpolitik von der Bankenaufsicht strikt getrennt ist und anderen Rechenschaftspflichten unterliegt. Während die Rechenschaftspflicht für die geldpolitischen Aufgaben im Primärrecht festgelegt ist, regelt eine Verordnung, also Sekundärrecht, die Bankenaufsicht . Sie wird ergänzt durch eine Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der EZB sowie einem Memorandum of Understanding zwischen dem Rat der EU und der EZB.

Und während die Geldpolitik über weites Ermessen und autonome Regulierungs- und Entscheidungsbefugnis verfügt, ist der Spielraum in Aufsichtsfragen durch die Beschlüsse der entsprechenden europäischen und nationalen Gesetzgeber begrenzt.

Hinzukommt, dass die EZB verbindlichen technischen Regulierungs- und Durchführungsstandards unterliegt, die von der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (European Banking Authority – EBA) ausgearbeitet und von der Kommission erlassen werden, sowie der Befugnis der EBA, Streitigkeiten zwischen zuständigen Behörden rechtsverbindlich zu regeln. Die EZB wird zwar zu Gesetzesentwürfen in ihren Zuständigkeitsbereichen konsultiert, aber die aufsichtsrechtliche Politik wurde nicht an die EZB übertragen – anders als die Währungspolitik.

Auch die personelle Unabhängigkeit ist anders gestaltet. Sie ist im Rahmen der geldpolitischen Funktion weitreichender und detaillierter geregelt als für die aufsichtliche Aufgabe. Der Vertrag legt die Amtszeit von EZB-Direktoriumsmitgliedern auf einmalig acht Jahre fest – das ist deutlich länger als der gängige politische Wahlzyklus. Die EZB-Direktoren können nur vom EuGH ihres Amtes enthoben werden, wenn sie die Voraussetzungen für die Ausübung ihres Amtes nicht mehr erfüllen oder eine „schwere Verfehlung“ begangen haben. Für nationale Zentralbankpräsidenten gelten entsprechende Regelungen. Deren Amtszeit beträgt mindestens fünf Jahre.

Die Mitglieder des Aufsichtsgremiums (Supervisory Board) dagegen – mit Ausnahme der Vorsitzenden und ihrer Stellvertreterin sowie den EZB-Repräsentanten – genießen keinen Schutz vor willkürlicher Amtsenthebung. Sie haben auch keine gesetzlich geschützte Mindestamtszeit nach europäischem Recht.

Zwei Schlussfolgerungen lassen sich ziehen.

  • Erstens: In der gegenwärtigen Debatte um die Unabhängigkeit von Zentralbanken muss man zwischen den Aufgaben innerhalb des etablierten Mandats der Kaufkraftsicherung und denen unterscheiden, die den Zentralbanken zusätzlich von außen angetragen wurden. In der Geldpolitik ist das hohe Maß an Unabhängigkeit nach wie vor gerechtfertigt, auch wenn neue, zeitlich begrenzte Instrumente angesichts eines veränderten Umfeldes erforderlich wurden.
  • Und zweitens: Funktionen, die traditionell einer strengeren demokratischen Kontrolle unterliegen, sind nach wie vor anderen Rechenschaftspflichten und Regeln unterworfen. Aus diesem Grund hat sich der europäische Gesetzgeber für eine explizite Trennung der Mandate für Geldpolitik und mikro-prudenzielle Aufsicht entschieden. Es ist dabei möglich, in ein und derselben Institution Unterschiede bei der zugewiesenen Unabhängigkeit zu organisieren; wie die EZB belegt, die unter einem Dach sowohl Geldpolitik als auch Bankenaufsicht beherbergt – organisatorisch strikt getrennt und mit unterschiedlichen Rechenschafts- und Kontrollpflichten.

Richtig ist, dass die Herausforderungen für die Geldpolitik in den zurückgelegenen Jahren deutlich zugenommen haben. Richtig ist auch, dass den Zentralbanken neue Aufgaben angediehen wurden, die eine andere Rechenschaftspflicht bedingen. Die EZB hat in den vergangenen Jahren gezeigt, dass beides machbar und rechtens ist. Nun die Unabhängigkeit der Zentralbanken per se in Frage zu stellen, hieße deshalb, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Der Beitrag ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung eines Vortrages beim Symposium on Building the Financial System of the 21st Century: An Agenda for Europe and the United States, Frankfurt am Main, 30. März 2017.

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