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Die europäische Wirtschaftsverfassung: Wettbewerbsfähigkeit, solide Staatsfinanzen und Fairness

Rede von Jörg Asmussen, Mitglied des Direktoriums der EZB, Rede beim Versicherungstag 2012 des GDV, Berlin, 15. November 2012

Sehr geehrter Herr Hoenen,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

herzlichen Dank für die Einladung beim Versicherungstag 2012 zu Ihnen zu sprechen.

Viele von Ihnen habe es in Ihrer täglichen Praxis mit deutsche Firmen zu tun, die in ihrem jeweiligen Gebiet Marktführer sind und anderswo für ihre Innovationsfreude und Anpassungsfähigkeit beneidet werden. Quer durch Europa, diskutieren Regierungen, ob und wie sie dieses “deutsche Modell“ übernehmen könnten.

Heute fällt es schwer, sich vorzustellen, dass Deutschland vor ein paar Jahren noch als „kranker Mann Europas“ galt. Die schlechte Verfassung der deutschen Wirtschaft galt als hoffnungsloser Fall.

Warum hat sich die Verfassung der deutschen Wirtschaft so schnell geändert?

Weil Deutschland sich auf die beiden Schlüsselbereiche konzentriert hat, die für Wohlstand in einer globalisierten Welt entscheidend sind: Wettbewerbsfähigkeit und solide Staatsfinanzen. Diesen beiden Themen – Wettbewerbsfähigkeit und solide Staatsfinanzen als Kernelemente einer guten Wirtschaftsverfassung auch für Europa – möchte ich heute zum Gegenstand meiner Ausführungen machen.

Ich möchte erläutern, was in Europa gerade passiert, um die Wettbewerbsfähigkeit der Region zu stärken und die Staatsfinanzen nachhaltig zu sanieren.

Das ist ein komplexer Prozess, an dem sowohl die europäischen Institutionen beteiligt sind, als auch jeder einzelne Mitgliedsstaat. Ich möchte diese komplexe Materie von drei Seiten beleuchten:

  • Erstens, werde ich auf Maßnahmen seitens der EZB zu sprechen kommen,

  • zweitens, Maßnahmen seitens der Mitgliedstaaten aufgreifen, und

  • drittens, beschreiben, welche Maßnahmen, auf europäischer Ebene ergriffen werden.

Zum Abschluss meiner Rede möchte ich auf einen weiteren, aus meiner Sicht unabdingbaren, Baustein einer guten Wirtschaftsverfassung zu sprechen kommen:

im europäischen Modell einer Wirtschaftsverfassung muss man sich auch über Fairness und Gerechtigkeit Gedanken machen und darüber, wie wir Wettbewerbsfähigkeit, solide Staatsfinanzen und Fairness in einen vernünftigen Dreiklang bringen.

1. Die Maßnahmen der EZB

Lassen Sie mich mit den Maßnahmen der EZB beginnen.

Es mag seltsam erscheinen, über die EZB im Zusammenhang von Wettbewerbsfähigkeit, Staatsfinanzen und Wirtschaftsverfassung zu sprechen. Unsere vorrangige Aufgabe ist es, die Preise im Eurowährungsgebiet stabil zu halten.

Diese Aufgabe haben wir in den letzten zehn Jahren erfolgreich erfüllt; daran lassen wir uns auch weiterhin messen. Wettbewerbsfähigkeit und solide Staatsfinanzen sind Aufgabe der Regierungen. Wir haben hier nicht mitzumischen. Vor allem nicht, wenn es um Staatsfinanzen geht. Der EZB ist die Staatsfinanzierung aus gutem Grund explizit vertraglich verboten.

Dennoch, die Arbeit der Zentralbank kann extrem schwierig werden, wenn andere Akteure „nicht liefern“. Wenn die Lage an den Finanzmärkten angespannt ist und wirtschaftliche Entwicklungen innerhalb des Euroraums sehr unterschiedlich verlaufen, kommen unsere geldpolitischen Signale nicht mehr richtig in der Realwirtschaft an.

Die Anpassung des Leitzinses, unseres primären gelpolitischen Instruments, kann so relativ wirkungslos verpuffen.

Genau das haben wir in den letzten Monaten im Euroraum beobachten können. Investoren bezweifeln die Zahlungsfähigkeit einiger Länder. Sie sorgen sich um öffentliche Haushaltspolitik und Wachstumsaussichten. Deshalb leihen sie den Banken in den betroffenen Ländern nur gegen sehr viel höhere Zinsen Geld. Das wiederum führt auch zu höheren Kreditzinsen für Unternehmen und private Haushalte in diesen Ländern.

Letztlich spiegelt sich in dieser Fragmentierung der Finanzmärkte ein Wechselkursrisiko, das es in der Währungsunion nicht geben dürfte. Dieses Problem müssen wir als Zentralbank angehen.

Wir müssen sicherstellen, dass die geldpolitische Transmission funktioniert, um für Preisstabilität im gesamten Euroraum sorgen. Nur eine Währung, an deren Bestand es keinen Zweifel gibt, ist eine stabile Währung.

Aus diesem Grund hat sich die EZB im Sommer für ein neues Anleihekaufprogramm entschieden, die sogenannten „Outright Monetary Transactions“ (OMT). Der mögliche Ankauf von Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit auf dem Sekundärmarkt zielt darauf ab, unbegründeten Sorgen über den Zerfall des Euroraumes entgegenzuwirken. Der Euro ist irreversibel.

Die EZB bewegt sich mit Anleihekäufen auf dem Sekundärmarkt im Rahmen ihres Mandats.

Artikel 18 unseres Statuts sieht dieses Instrument ausdrücklich für die Geldpolitik vor. Mit Anleihekäufen im Rahmen des OMT-Programms betreiben wir keine Staatsfinanzierung.

Die gestörte geldpolitische Transmission kann aber nur repariert werden, wenn auch die zugrunde liegenden makroökonomischen Ungleichgewichte angegangen werden. Deshalb ist ein Antrag beim Rettungsschirm ESM unter Einbeziehung des IWF und die Verpflichtung, die damit verbundenen Auflagen einzuhalten, Grundvoraussetzung dafür, dass die EZB unter dem neuen Anleihekaufprogramm tätig wird.

Diese Konditionalität ist aus meiner Sicht eine entscheidende Verbesserung des neuen Anleihekaufprogramms gegenüber dem Vorgängerprogramm.

Die Auflagen helfen, gesunde Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Sie tragen dazu bei, dass Regierungen, Unternehmen und private Haushalte wieder aufgrund ihrer Kreditwürdigkeit beurteilt werden und nicht aufgrund ihres Standorts. So tragen also auch unsere Maßnahmen zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und soliden Staatsfinanzen im Euroraum bei.

Der eine oder andere unter Ihnen mag sich nun denken, dass die EZB sich vielleicht zu stark von der Belastung durch irrational hohe Zinsen in manchen Ländern leiten lässt, wenn hier in Deutschland – und gerade in Ihrer Branche – genau das umgekehrte Thema im Mittelpunkt der aktuellen Diskussionen steht:

die Sorgen vor einer anhaltenden Niedrigzinsphase und die Ertragsaussichten für die Versicherer. Herr von Bomhard wurde letzte Woche im Handelsblatt mit den Worten zitiert, dass dauerhafte Niedrigzinsen die Branche „gewaltig stressen“.

Ich möchte Ihnen versichern, dass wir vor diesen Sorgen die Augen nicht verschließen, ganz im Gegenteil: wir wissen, dass die Flucht der Anleger in sichere Häfen die Kehrseite der Medaille ist, wenn wir uns die Fragmentierung der Finanzmärkte in Europa insgesamt anschauen. Deshalb zielen unsere Maßnahmen nicht nur auf eine Normalisierung in den Ländern ab, die unter hohen Zinsen zu leiden haben. Ich möchte hier nur wiederholen, was EZB-Präsident Draghi in der vergangenen Woche gesagt hat:

unsere Maßnahmen werden unter dem Strich auch dazu beitragen, Kapitalströme umzulenken, mit positiven Effekten für Sparer, Pensionsfonds und Versicherungen, die alle auf Zinserträge angewiesen sind. So werden unsere Maßnahmen nicht nur für die in Schwierigkeiten geratenen Länder, sondern für das Eurogebiet insgesamt von Nutzen sein.

Lassen Sie mich kurz auf einen Punkt eingehen, ohne den keine Rede eines Zentralbankers in Deutschland auskommt: Inflation.

Inflationssorgen werden zum einen im Zusammenhang mit dem Anleihekaufprogramm geäußert, zum anderen mit Blick auf den sehr niedrigen Leitzins. Ich versichere Ihnen: Diese Sorgen sind unbegründet.

Das Geld, das dem Markt mit möglichen Anleihekäufen im Rahmen des OMT zugeführt wird, wird an anderer Stelle wieder abgezogen. Im Fachjargon reden wir vom „Sterilisieren“ der Anleihekäufe. So haben wir das auch mit dem alten Anleihekaufprogramm Woche für Woche seit Mai 2010 gehandhabt.

Nach unseren derzeitigen Prognosen wird die Inflation im Euroraum im nächsten Jahr unter zwei Prozent liegen. Wichtiger noch, die Inflationserwartungen im Euroraum sind solide verankert – in sechs bis zehn Jahren preisen die Finanzmärkte eine Inflationsrate von knapp unter zwei Prozent ein. Das deckt sich mit den Prognosen des IWF:

Für das Jahr 2013 prognostiziert der IWF Inflationsraten von 1,6 Prozent für den Euroraum und 1,9 Prozent für Deutschland. Von Inflation oder Geldentwertung in Deutschland kann keine Rede sein.

Im Euroraum wird notwendige wirtschaftliche Anpassung nicht über den einfachen Weg der Inflation stattfinden, sondern über den harten Weg der Reformen. Diese liegen in der Verantwortung der Regierungen.

Das führt mich zum zweiten Themenkreis: Maßnahmen der Mitgliedsstaaten, die für mehr Wettbewerbsfähigkeit und ausgeglichene Haushalte sorgen.

2. Maßnahmen auf Seiten der Mitgliedstaaten

Die aktuellen Probleme im Euroraum sind vor allem auf falsche Finanz- und Wirtschaftspolitik in der Vergangenheit zurückzuführen. Die EZB kann ihren Teil tun, um unbegründete Sorgen vor Katastrophenszenarien zu zerstreuen. Aber nachhaltige Wege aus der Krise zu finden ist ganz klar Aufgabe der Mitgliedstaaten.

Was das angeht, gibt es sowohl gute als auch weniger gute Nachrichten.

Die gute Nachricht ist, dass bereits wichtige Reformfortschritte erzielt worden sind.

Die Sparbemühungen der öffentlichen Hand sind beachtlich.

Die meisten Mitgliedsstaaten sind auf gutem Weg dahin, ihr Haushaltsdefizit bis Ende nächsten Jahres unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken. Speziell die Programmländer haben große Anstrengungen unternommen: Für Griechenland wird zwischen Anfang 2009 und Ende 2012 eine Reduzierung des Defizits um rund 9 Prozentpunkte prognostiziert, für Irland um 6 ½ Prozentpunkte und für Portugal um 5 Prozentpunkte.

Im internationalen Vergleich steht der Euroraum insgesamt nicht schlecht da. Laut IWF-Prognosen liegt das Defizit im Euroraum dieses Jahr bei 3,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In den Vereinigten Staaten, hingegen, bei etwa 8,7 und in Japan bei fast 10 Prozent. Beim Schuldenstand ist das Bild ähnlich deutlich:

Während der Euroraum im Durchschnitt einen Schuldenstand von 90% gemessen am BIP hat, sind es in den USA 106 % und in Japan 235 % des jeweiligen BIP. Die USA müssen in den nächsten Wochen enorme Anstrengungen unternehmen, um dem Fall über die sogenannte fiscal cliff noch zu entgehen. Ich sage das nicht, um Probleme bei uns schönzureden, sondern um sie in den internationalen Kontext zu stellen.

Was die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit angeht, sind insbesondere in den Programmländern wichtige Fortschritte erzielt worden. Ich denke hier konkret beispielsweise an die Korrektur der nominalen Lohnstückkosten. Seit 2008 sind diese Kosten etwa in Griechenland um 6 Prozentpunkte relativ zum Durchschnitt im Euroraum gesunken.

Derartige Verbesserungen der Wettbewerbsfähigkeit schlagen sich auch messbar in der Entwicklung der Leistungsbilanz in den Programmländern nieder. In Portugal ist das Leistungsbilanzdefizit seit 2008 beispielsweise um 10 Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts gesunken, was nicht nur auf gesunkene Importe, sondern auch auf gestiegene Exporte zurückzuführen ist.

Welche Schlussfolgerungen können wir aus diesen Entwicklungen ziehen?

Erstens, es gibt keine Trittbrettfahrer im Euroraum. Allen Mitgliedstaaten ist bewusst, wie wichtig solide Staatshaushalte sind. Im gesamten Eurowährungsgebiet finden strukturelle Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit statt.

Aber es wird eine Weile dauern, bis die Erfolge dieser Reformen auf die wirtschaftlichen Schlüsseldaten durchschlagen. Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir mitten in einem Anpassungsjahrzehnt stehen.

Zweitens, Anpassung geht auch ohne Abwertung des Wechselkurses. Wir können gerade beobachten, dass Anpassung innerhalb des Euroraums möglich ist. Behauptungen, gewisse Länder könnten ihre Wettbewerbsfähigkeit nur wiederherstellen, wenn sie den Euroraum verlassen und ihre Währung abwerten, sind falsch.

Drittens, Anpassungsprogramme können funktionieren. Manch einer versucht uns glauben zu machen, wir handelten selbstzerstörerisch. Aber das ist ganz klar nicht der Fall.

Haushaltskonsolidierung verringert die Defizite. Strukturreformen führen zu besseren Leistungsbilanzen. Und das Vertrauen der Anleger kann zurückgewonnen werden: Irland konnte sich im Juli zum ersten Mal seit Beginn des Anpassungsprogramms wieder über den Kapitalmarkt refinanzieren. Portugal hat vor kurzem erfolgreich einen Bondtausch von Papieren mit einjähriger Laufzeit auf Anleihen mit dreijähriger Laufzeit durchgeführt und tastet sich wieder an den Kapitalmarktzugang heran.

Aber, und das ist die weniger gute Nachricht, es gibt noch viel zu tun. Und zwar in fast allen Mitgliedstaaten der Währungsunion.

Die Haushaltslage bleibt in vielen Euroländern trotz verringerter Defizite schwach.

Der IWF sagt für nächstes Jahr für vier Euroländer Schuldenstände über 100% des Bruttoinlandprodukts voraus (Griechenland, Portugal, Irland und Italien), für acht Länder geht er von mehr als 70% des Bruttoinlandprodukts aus (Spanien, Zypern, Belgien, Österreich, Malta, die Niederlande, Frankreich und Deutschland). Nur fünf Länder werden voraussichtlich unter den angepeilten 60% des Bruttoinlandprodukts liegen (Finnland, Luxemburg, Estland, Slowakei und Slowenien). Um die Vorgaben des neuen Fiskalpaktes zu erreichen, werden also einige Länder in den nächsten Jahren sehr sparsam haushalten müssen.

Mehr noch, trotz der eingangs erwähnten Fortschritte in Sachen Wettbewerbsfähigkeit, sieht sich fast jedes Land mit weiteren Herausforderungen konfrontiert. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne auf aufschlussreiche Aspekte des aktuellen „Global Competitiveness Report“ des World Economic Forum (WEF) eingehen. [1]

Für Industrienationen ist, so der Bericht, insbesondere der Aspekt ‚Innovation‘ wichtig. Und da sehen wir innerhalb des Euroraums sehr große Unterschiede:

Finnland hält weltweit den dritten Platz auf der Innovationsskala, Deutschland den siebten, die Niederlande den zwölften und Frankreich den 17.

Irland liegt auf Platz 23, Portugal auf 32, Spanien auf 39 und Italien belegt Platz 43. Griechenland liegt hier abgeschlagen auf Platz 88.

Diese Zahlen verdeutlichen, dass der gemeinsame Binnenmarkt Kernstück einer Wettbewerbsstrategie für Europa sein muss. Die Innovationsfreude der besten Unternehmen in Europa sollte auf den Rest der Union ausstrahlen. Das ist viel effizienter, als nationale Champions zu fördern – oder bestimmte lokale Industriezweige zu ermuntern, endlich aufzuholen. Davon werden alle Bürger der EU profitieren. Die EU-Kommission rechnet damit, dass die Vervollständigung des gemeinsamen Dienstleistungsmarktes einen Gewinn von bis zu 330 Milliarden Euro, oder anders ausgedrückt 2 ½ Prozent des EU-BIP, über 5 bis 10 Jahre mit sich bringen würde.

Ein weiterer interessanter Aspekt des „Global Competitiveness Reports“ betrifft die Schwachstellen, die für Länder wie Deutschland genannt werden. Es besteht kein Zweifel, dass Deutschland bisher sehr gut durch die Krise gekommen ist, was nicht zuletzt die Früchte der Agenda 2010 sind, die jetzt eingefahren werden können. Aber es gibt durchaus noch Verbesserungsmöglichkeiten.

Das deutsche Bildungssystem liegt im weltweiten Vergleich nach WEF-Studie auf Platz 17. Das ist nicht schlecht, aber entspricht dennoch nicht dem, was nötig ist, um in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts mitzuhalten. Und obwohl deutsche Unternehmen sehr innovationsfreudig sind, liegt das Land nur auf Platz 41, wenn es um die Verfügbarkeit von Wissenschaftlern und Ingenieuren geht. Die Qualität der mathematischen und naturwissenschaftlichen Ausbildung liegt nur auf Platz 48. Das ist besonders Besorgnis erregend für ein Land, dessen Erfolg und internationaler Ruf vor allem auf hochqualitative Produkte im verarbeitenden Gewerbe zurückzuführen sind.

Der springende Punkt ist, dass alle Länder des Euroraums, auch Deutschland und Frankreich, ihre Hausaufgaben machen müssen. Wenn sich Europa gegenüber aufstrebenden Schwellenländern behaupten will, muss die Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig und auf allen Ebenen gestärkt werden.

Das europäische Sozialmodell muss sich reformieren. Die Zeiten, in denen man Schulden angehäuft hat, um Sozialausgaben zu finanzieren, sind vorbei.

In den kommenden Jahrzenten wird es um Schuldenabbau gehen müssen. Wenn wir unseren derzeitigen Lebensstandard halten wollen, müssen wir ihn mit Produktivitätszuwächsen, mehr Innovation und härterer Arbeit erwirtschaften. Dazu gehört für Deutschland ganz konkret, dass die Rente mit 67 nicht in Frage gestellt werden sollte.

Eine stärkere institutionelle Ausgestaltung würde dem Euroraum helfen, langfristig mehr Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit zu erreichen. Dabei denke ich an Regeln und Institutionen, die nachhaltige Finanzen und solide Wirtschaftspolitik verlässlich und dauerhaft garantieren.

Und das führt mich zum dritten Aspekt meiner Ausführungen: den Maßnahmen auf europäischer Ebene.

3. Maßnahmen auf europäischer Ebene

Willy Brandt sagte einmal treffend: „Mit Europa ist es wie mit dem Liebesspiel der Elefanten: Alles spielt sich auf hoher Ebene ab, wirbelt viel Staub auf – und es dauert sehr lange, bis etwas dabei herauskommt.“

Wir beginnen in diesen Wochen das vierte Jahr, in dem wir auf europäischer Ebene im Krisenmodus arbeiten. Weitgehend akzeptiert ist mittlerweile der Befund, dass die Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion unvollständig ist und dringend der Ergänzung bedarf, um den Stabilitätserfordernissen der gemeinsamen Währung zu genügen.

Aber es ist auch schon viel auf den Weg gebracht worden in den vergangenen zwei Jahren.

Inzwischen sieht der Fiskalpakt eine Schuldenbremse nach deutschem Modell für alle 25 Unterzeichnerstaaten in Europa vor. Und mit dem sogenannten Sixpack der Stabilitäts- und Wachstumspakt deutlich gestärkt worden; wir haben ein Frühwarnsystem für zu starke makroökonomische Ungleichgewichte eingeführt.

Der Umfang dieser Veränderungen und auch die Geschwindigkeit, mit der sie stattgefunden haben, gehen in der öffentlichen Debatte oft unter.

Heißt das nun, dass wir schnellstmöglich die Vereinigten Staaten von Europa schaffen müssen, um diese Krise umfassend zu lösen und nachhaltig das Vertrauen der Anleger zu sichern? Natürlich nicht, denn das wäre unrealistisch und Europa ist und wird eine Konstruktion sui generis bleiben.

Aber wir müssen die Europäische Integration tatkräftig vorantreiben. Das Ziel mehr Wettbewerbsfähigkeit und solide Staatsfinanzen in Europa erfordert neue Wege, die Haushalts- und Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene zu organisieren und zu beaufsichtigen.

Dies bedeutet, wir müssen über allgemeine Forderungen nach ‚mehr Europa’ hinauszugehen. Wir brauchen vielmehr ein ‚besseres‘ Europa und müssen jetzt konkret werden.

Diese Arbeit hat bereits begonnen.

Ende Oktober haben die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen den Zwischenbericht der Präsidenten van Rompuy, Barroso, Juncker und Draghi zur Vollendung der Währungsunion angenommen, momentan laufen intensive Arbeiten an der Fertigstellung dieses Berichts für den Gipfel im Dezember. In dem Bericht geht es um vier Bausteine: eine Fiskalunion, eine Finanzmarktunion, eine echte Wirtschaftsunion und eine demokratisch legitimierte politische Union. Diese vier Bereiche sind gleichermaßen wichtig, sie bedingen einander und müssen parallel angegangen werden.

Ich möchte mich im Folgenden stichwortartig auf einen dieser vier Bereiche beschränken: Worum geht es bei der Fiskalunion?

Nachlässige Haushaltsführung in einem Mitgliedstaat darf künftig nicht mehr andere Mitgliedstaaten in Mitleidenschaft ziehen. Hier kann man an stärkere Durchgriffsrechte für Brüssel denken, etwa dass ein nationale Haushaltsentwurf in Gänze von Brüssel abgelehnt werden könnte. Wie ein Haushalt gegebenenfalls zu korrigieren ist, sollte allerdings in der Kompetenz des jeweiligen Mitgliedsstaates bleiben. Damit die notwendigen fiskalpolitischen Anpassungen jedoch stattfinden, muss es entsprechende Anreize geben. Eine Überlegung wäre, dass Anleihen, die zu einer Staatsverschuldung über dem Schwellenwert von 60% des BIP führen, nur nachrangig bedient werden. Das würde die Schuldenaufnahme verteuern und somit ein marktbasiertes Anreizsystem für mehr Haushaltsdisziplin schaffen.

4. Fortschritt und Fairness

Lassen Sie mich in die Schlusskurve kommen.

Wettbewerbsfähigkeit und solide Staatsfinanzen in Europa sollten auf mehreren Ebenen angegangen werden. Die Regierungen in Europa müssen die Staatsdefizite reduzieren und Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit auf den Weg bringen. Gemeinsam müssen Regeln und Institutionen auf europäischer Ebene gestärkt werden. Die EZB leistet ihren Beitrag, indem sie für stabile Preise im Euroraum sorgt.

Der Prozess, die Wirtschaft des Euroraums nachhaltig wettbewerbsfähig zu machen, ist bereits in vollem Gange. Wir dürfen aber das Ziel nicht aus den Augen verlieren.

Kurzfristige Entlastungen des Refinanzierungsdrucks dürfen nicht zum Erlahmen der Reformanstrengungen führen.

Ich bin jedoch zuversichtlich, dass wir den nötigen Antrieb nicht verlieren werden.

Die Auszeichnung der EU mit dem diesjährigen Friedensnobelpreis ist nicht nur Zeichen der Wertschätzung der gemeinsamen Errungenschaften Europas über die letzten 60 Jahre, sondern zugleich Ansporn aus der Krise gemeinsam gestärkt hervorzugehen. Lassen Sie uns also darauf hinarbeiten, dass nicht nur das Friedens-, sondern auch das Wirtschaftsprojekt Europa eines Nobelpreises würdig wird.

Dies bringt mich zu meinen abschließenden Gedanken: die nächsten anstehenden Integrationsschritte werden wir nur vollziehen können, wenn wir die Bevölkerungen in Europa „mitnehmen“, sie von der Notwendigkeit und der Richtigkeit dieses Weges überzeugen. Und wenn wir glaubhaft darstellen können, dass eine neue europäische Wirtschaftsverfassung nicht nur effizienter, sondern auch attraktiver und fairer ist. Eine wachsende Gruppe der Bevölkerung sieht die Ergebnisse unseres europäischen Sozialmodells nicht mehr als gerecht, sondern als unfair an. Sie sagen: Es ist zwar schön, dass wir alle in einen Boot sitzen. Aber die einen rudern, während die anderen angeln.

Die Doppelkräfte von Globalisierung und technologischen Fortschritt haben die globale Ungleichheit verringert, da die ärmeren Länder aufholen konnten Aber Daten zeigen die wachsende Ungleichheit innerhalb von Staaten, auch in Europa: Der Gini-Koeffizient ist eine Standardkennzahl zur Messung von Einkommensungleichheit. Null bedeutet: Alle Bürger haben das gleiche Einkommen; eins bedeutet: das gesamte Einkommen geht an eine Person. In den OECD-Ländern lag der Gini-Koeffizient Mitte der 80er Jahre bei 0,29. Ende 2010 lag er bei 0,32. Dieser Anstieg der Einkommensungleichheit sieht gering aus, ist aber ein Anstieg um 10%. In 17 von 22 OECD-Ländern, für die diese Datenreihen vorliegen, ist die Ungleichheit angestiegen, auch in Ländern der Eurozone, auch in Deutschland.

Die Mehrheit der Menschen auf der Erde lebt in Ländern, in denen die Einkommensungleichheit größer ist als in der Generation ihrer Eltern.

Ist diese wachsende Einkommensungleichheit von Bedeutung? Darüber kann man je nach politischem Standpunkt unterschiedlicher Ansicht sein. Ich denke, sie ist von Bedeutung. Denn Chancengleichheit und Teilhabe sind Kernelemente unseres europäischen Sozialmodells.

Aber auch unabhängig davon, aus rein ökonomischer Sicht, ist die wachsende Einkommensungleichheit bedeutsam. Denn sie senkt die Akzeptanz für notwendige wirtschaftliche Reformen. Im Extremfall führt sie zu politischen Ereignissen, die sich niemand wünscht.

Wir beobachten wachsende Reformmüdigkeit in Griechenland und Spanien, jüngst auch in Portugal.

Konkret bedeutet dies, dass wir das Design der Anpassungsprogramme, insbesondere im Bereich der Fiskalpolitik, entsprechend ausrichten müssen. Wir brauchen eine aktive Arbeitsmarktpolitik und Investitionen in Bildung, um die Arbeitskräfte arbeitsfähig zu erhalten oder die Arbeitsfähigkeit herzustellen.

Grundsätzlich müssen wir nach Wegen suchen, Fortschritt und Fairness miteinander zu verbinden. Wir brauchen beides. Fortschritt – das bedeutet wachstumsfördernde Strukturreformen und nachhaltige Finanzpolitik. Fairness – das bedeutet die Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Aus meiner Sicht gehören beide Elemente zusammen. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten.

Denn Stabilität, nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer und sozialer Hinsicht, sind essentielle Voraussetzung für Wohlstand und Wachstum. Eine europäische Wirtschaftsverfassung muss drei Elemente in Einklang bringen: Wettbewerbsfähigkeit, solide Staatsfinanzen und Fairness. Ohne Fairness wird es keinen Fortschritt geben.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

  1. [1]http://www3.weforum.org/docs/WEF_GlobalCompetitivenessReport_2012-13.pdf

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