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NEW ECONOMY, FINANZMÄRKTE UND GELDPOLITIK

Rede von Dr. Willem F. Duisenberg, President der Europäischen Zentralbank, auf der Sitzung der Zürcher Volkswirtschaftlichen Gesellschaft, Zürich, 19. Mai 2003.

Sehr geehrte Damen und Herren,

es ist mir eine Ehre, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen, und so möchte ich mich zunächst bei der Zürcher Volkswirtschaftlichen Gesellschaft für ihre Einladung bedanken.

Als studierten Volkswirten ist Ihnen allen bekannt, dass die Geldtheorie im Lauf des letzten Jahrhunderts von den verschiedensten Seiten vor große Herausforderungen gestellt wurde: Zu nennen sind hier die Keynessche Revolution, die Neoklassische Synthese, die monetaristische "Gegenrevolution", die Entstehung der Neuen Klassischen Mikroökonomie mit der Einführung des Begriffs der rationalen Erwartungen sowie die realen Konjunkturtheorien.

Ähnlich der Geldtheorie galt es auch in der Geldpolitik, große Herausforderungen zu bestehen. Wir alle wissen, dass das wirtschaftliche und finanzielle Umfeld, in dem die Geldpolitik ihre Wirkung entfalten muss, einem ständigen Wandel unterliegt. Zu den Veränderungen der letzten Jahre gehören natürlich auch die Diskussionen über eine "New Economy" sowie die zunehmende Bedeutung der Finanzmärkte, die sich durch die eng miteinander zusammenhängenden Prozesse ihrer Liberalisierung und Globalisierung noch verstärkt hat. Vielleicht verwundert es Sie, dass ich das Thema "New Economy" erneut aufgreife, wo es doch bei zahlreichen Anlässen bereits ausführlich behandelt worden ist – auch von mir selbst. Widme ich mich hier etwa einem Thema, das inzwischen schon "alt" geworden ist und ein weiteres Kapitel in den Geschichtsbüchern der Wirtschaftswissenschaften darstellt?

Ich verstehe solche Gedanken. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich Sie nicht damit langweilen werde, vergangene Ereignisse zum wiederholten Male aufzuzählen. Mein heutiges Exposé soll in die Zukunft gerichtet sein, wie es sich für das Exposé eines Zentralbankers auch gehört. Ich möchte mich damit befassen, welche Lehren wir aus den überzogen optimistischen Erwartungen in Zusammenhang mit den so genannten Regimewechseln ziehen können, wie beispielsweise dem Schock auf der Angebotsseite einer als solchen wahrgenommenen "New Economy" und den darauf folgenden extremen Hochs und Tiefs bei den Finanzmarktpreisen. Wie sollen die geldpolitischen Entscheidungsträger mit den sich hieraus ergebenden finanziellen Ungleichgewichten umgehen, und wie sollen sie das richtige Verhältnis zwischen Geldwertstabilität und Finanzmarktstabilität finden?

Ich werde heute zunächst kurz auf die Herausforderungen eingehen, die das neue Umfeld, insbesondere durch die "New Economy" und die wachsende Bedeutung der Kapitalmärkte, an die geldpolitischen Entscheidungsträger stellt. Im Anschluss daran befasse ich mich mit dem, was ich die Exzesse dieses neuen Umfelds nenne; für mich sind dies der Spekulationsboom an den Wertpapiermärkten und Hinweise auf ein in der Unternehmenskultur um sich greifendes Kurzfristdenken. Zum Schluss befasse ich mich mit einigen Gedanken zur Stabilität im Finanzsystem und werde abschließend einige Lehren für die Zukunft aufzeigen.

Das Paradigma der "New Economy"

Niemand wird bezweifeln, dass die Welt im Lauf des vergangenen Jahrhunderts überwältigende Fortschritte im Bereich der Technologie, aber auch bei der Produktivität gemacht hat. Dies führte nicht nur zu einem enormen Wirtschaftswachstum, sondern auch dazu, dass der Wohlstand des Einzelnen deutlich gestiegen ist. Berechnungen haben ergeben, dass die Situation in den Industrieländern Ende des 20. Jahrhunderts etwa 20 mal besser war als hundert Jahre zuvor (1).

Die Entwicklungen bei der technologischen Infrastruktur rückten in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre innerhalb der ökonomischen Diskussionen immer stärker in den Vordergrund. Zu den bemerkenswertesten wirtschaftlichen Ereignissen der letzten Jahre zählten das Tempo und das Ausmaß der Veränderungen bei den Informations- und Kommunikationstechnologien sowie die Diskussion über eine so genannte "New Economy" im Euroraum. Es gibt zwar noch immer keine unumstrittene Definition dessen, was unter dem Begriff der "New Economy" genau zu verstehen ist, generell soll er jedoch die folgenden Merkmale beinhalten: Eine "New Economy" scheint sich vor allem in einem immer höheren Potenzialwachstum zu manifestieren, wobei die durch technologische Innovationen vorangetriebenen Produktivitätszuwächse den wichtigsten Motor dieser Aufwärtsbewegung ausmachen.

Das Problem bei der "New Economy" bestand jedoch darin, dass die vorliegenden Hinweise auf ihre Existenz sehr unterschiedlicher Natur waren; dies gilt für die Vereinigten Staaten und mehr noch für den Euroraum. Einerseits kamen einige Studien, die auf aggregierter Ebene durchgeführt wurden, tendenziell zu dem Schluss, dass die Daten die Bestätigung einer "New Economy" nicht rechtfertigten. Andererseits ergaben sich aus mehreren Untersuchungen auf mikroökonomischer Ebene Hinweise darauf, dass sich die Informationstechnologie erheblich auf die Produktivität auf Unternehmensebene ausgewirkt hat.

Von Anfang an gab es allerdings, wenn überhaupt, nur in begrenztem Maße Hinweise auf eine "New Economy" im Euro-Währungsgebiet. Natürlich wirkten sich die Fortschritte in der Informations- und Telekommunikationstechnologie erheblich auf die Finanzdienstleistungsbranche aus; ihnen sind zahlreiche Finanzinnovationen und neue Geschäftsmethoden zu verdanken, beispielsweise Internetbanking, elektronisches Geld, Online-Brokingdienste oder elektronische Handelssysteme. Viel schwerer zu beurteilen waren jedoch die Auswirkungen auf die Realwirtschaft, nicht zuletzt weil keine zuverlässigen Statistiken verfügbar waren und sich die Interpretation der mit der "New Economy" zusammenhängenden Produktivitätsentwicklungen schwierig gestaltete. Nobelpreisträger Robert Solow drückte dies im Jahr 1987 folgendermaßen aus: "Überall ist vom Computer-Zeitalter die Rede, bloß nicht in den Produktivitätsstatistiken" (2). Die Schwierigkeiten bei der Interpretation dieser Entwicklungen gemahnten die politischen Entscheidungsträger daher zur Vorsicht.

Wechselbeziehungen der "New Economy" mit den Entwicklungen an den Finanzmärkten

Nun möchte ich mich den Wechselbeziehungen zwischen der "New Economy" und den Finanzmärkten zuwenden. Es wurde lange darüber diskutiert, welche Rolle der Entwicklung der Finanzmärkte bei der Förderung des Glaubens an die "New Economy" zukommt. In den meisten Industrienationen sind die Kapitalmärkte, getragen durch ihre Liberalisierung und Globalisierung, im Lauf der vergangenen zwei Jahrzehnte enorm angewachsen; und zwar sowohl hinsichtlich des Volumens und Werts der Transaktionen als auch in Bezug auf die Entwicklung neuer Wertpapierarten. Für den Euroraum dienten die Vorbereitung auf den Euro und die tatsächliche Einführung der gemeinsamen Währung zweifelsohne als ein wichtiger Katalysator, durch den sich die Effizienz der Kapitalmärkte im Euroraum verbesserte und bestehende Informationsassymetrien sowohl bei den Aktien- als auch bei den Rentenmärkten im Euroraum zu einem gewissen Grad abgebaut wurden. Dies war gewiss eine sehr positive Entwicklung, und ich unterstütze sie aus voller Überzeugung.

Zeitgleich mit dem Boom an den Aktienmärkten Ende der Neunzigerjahre und im Jahr 2000 haben Firmen im Euroraum in großem Umfang Beteiligungskapital aufgenommen. Junge Unternehmen, häufig aus der High-Tech-Branche, wurden an speziellen Börsensegmenten für wachstumsträchtige Unternehmen, den so genannten "Neuen Märkten", notiert. Der Umfang, in dem Eigenkapital an den Aktienmärkten im Euroraum aufgenommen wurde, stieg von 130 Mrd EUR im Jahr 1998 auf 320 Mrd EUR im Jahr 2000, als die Aktienkurse ihren Höhepunkt erreichten. Betrachtet man das Verhältnis zwischen der Marktkapitalisierung und dem nominalen Bruttoinlandsprodukt, so war das Wachstum der Aktienmärkte im Euroraum gewaltig. Über einen Zeitraum von zehn Jahren, nämlich zwischen 1990 und 2000, als das Kursniveau am höchsten war, ist dieses Verhältnis etwa um das Vierfache gestiegen.

Rückblickend kann man feststellen, dass der Glaube an enorme Gewinnpotenziale aus Investitionen in Unternehmen der "New Economy" zu einer Rally an den Aktienmärkten geführt hat, die alles Bisherige in den Schatten stellte. Die Bewertungen von Unternehmen aus der Internetbranche erreichten Niveaus, die in jeder Hinsicht einzigartig waren. Im März 2000 erreichte das Kurs-Gewinn-Verhältnis bei Aktien der Branchen Technologie, Medien und Telekommunikation mit einem Monatsdurchschnitt von 70 seinen Höchstwert, wohingegen der Durchschnittswert während der vergangenen 25 Jahre bei 13 gelegen hatte. Es schien, als habe ein neues Zeitalter eingesetzt, in dem es nach oben keine Grenzen mehr gab. Mit den steigenden Aktienkursen ging allerdings auch ein Anstieg der Volatilität an den Aktienmärkten einher: So hatte sich im historischen Vergleich die Volatilität des Nasdaq-Composite-Index von 1999 bis 2000 nahezu verdoppelt.

In den Exzessen, die insbesondere an den Aktienmärkten zu beobachten waren, kommen die Wechselbeziehungen zwischen dem Glauben an die "New Economy" und den Entwicklungen an den Finanzmärkten besonders deutlich zum Ausdruck. Allerdings spielte auch das Wachstum an den Rentenmärkten eine Rolle. Die Einführung des Euro und der Beginn der einheitlichen Geldpolitik scheinen sich deutlich positiv auf die Möglichkeiten für Emittenten von Unternehmensseite – sowohl aus der Finanzbranche als auch aus anderen Branchen – ausgewirkt zu haben, als Finanzierungsquelle auf die Emission von Unternehmensanleihen zurückzugreifen. Dieser Prozess wurde durch die steigende Zahl von Fusionen und Übernahmen zusätzlich angeheizt, da immer mehr Unternehmen von den Chancen des neuen dynamischen Umfelds profitieren wollten. Außerdem hat die Emissionstätigkeit bestimmter Branchen, die mit der "New Economy" verbunden sind, beispielsweise der Telekommunikations- oder der High-Tech-Branche, die Entwicklung von bestimmten Segmenten der Anleihemärkte gefördert, beispielsweise des Markts für hochverzinsliche Anleihen.

Wir alle wissen, wohin dieser Optimismus im Zusammenhang mit der "New Economy" geführt hat. Seit März 2000 hatten wir nicht nur einen deutlichen Einbruch bei den Aktienkursen, sondern auch steigende finanzielle Ungleichgewichte zu verzeichnen. So möchte ich mich nun der Frage zuwenden, was in der Zeit nach den extremen Auf- und Abwärtsbewegungen an den Finanzmärkten geschah.

Die Zeit danach

Würde der berühmte Philosoph Erasmus von Rotterdam heute leben, enthielte sein satirisches Meisterwerk "Das Lob der Torheit" über menschliche Schwächen und Ausschweifungen sicher noch ein zusätzliches Kapitel, das einige der Gepflogenheiten an den Finanzmärkten und Verhaltensweisen von Unternehmen beschreiben würde, die in den letzten Jahren nicht mehr zu übersehen waren (3). Diese Entwicklungen wurden, wie wir alle wissen, mitunter als irrational exuberance (irrationale Ausgelassenheit) oder infectious greed (ansteckende Profitgier) bezeichnet (4). Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Als die Kurse an den Aktienmärkten einbrachen, wurde jedoch schmerzhaft klar, welch hoher Preis für diese Exzesse zu zahlen war. Gemessen an dem weit gefassten Dow-Jones-Euro-Stoxx-Index sind die Aktienkurse im Euroraum von ihren Höchstständen im März 2000 bis Ende April 2003 um rund 57 Prozent zurückgegangen. Es ist ausgerechnet worden, dass es eine bessere Investition gewesen wäre, für 1 000 Deutsche Mark Bier zu kaufen, als denselben Betrag auf dem Höhepunkt der Spekulationsblase am Neuen Markt in Frankfurt anzulegen; denn bei dem Bier hätte man zumindest noch das Pfand auf die leeren Dosen zurückbekommen. Der Wertverfall bei den Finanzanlagen seit 2000 führte, in Verbindung mit dem Rückgang der Aktienkurse, dazu, dass der Verschuldungsgrad von nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften stieg. Der Rückgang des Wertes von Sicherheiten führte dazu, dass die Risikoprämien bei der Aufnahme von Krediten oder bei der Begebung von Schuldverschreibungen heraufgesetzt wurden. Dies wurde sichtbar in Aufschlägen bei den Kreditzinsen im Kundengeschäft der Banken gegenüber entsprechenden Marktsätzen sowie in steigenden Risikoaufschlägen auf die Verzinsung von Unternehmensanleihen.

Bei dem Verhältnis der Verschuldung von nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften gegenüber dem Bruttoinlandsprodukt, das in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre drastisch gestiegen ist, setzte erst im vergangenen Jahr eine Stabilisierung ein. Der relativ hohe Verschuldungsgrad von nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften wirkte sich vor allem im Lauf der letzten Jahre, in Verbindung mit dem Wertverfall bei den Finanzanlagen, über Bilanzeffekte nachteilig auf die Finanzierungsbedingungen der Unternehmen und dadurch auf die privaten Investitionen aus. Ferner sind die Unternehmen sehr viel zögerlicher dabei geworden oder finden es deutlich schwieriger, Beteiligungskapital über die Börsen aufzunehmen. Im Jahr 2002 erreichte der Gesamtwert des Bruttoabsatzes von Aktien nur rund 45 % des Jahresdurchschnitts für den Zeitraum 1999 bis 2002. In der zweiten Jahreshälfte 2002 sank der Wert der im Euroraum begebenen börsennotierten Aktien auf seinen niedrigsten Stand seit Mitte der Neunzigerjahre. Die Abnahme der Aktienemissionen in den Jahren 2001 und 2002 ging mit einem ähnlich starken Rückgang bei der Begebung von Schuldverschreibungen durch nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften einher. Die rückläufige Finanzierung durch die Emission von Wertpapieren weist zum Teil auf eine geringere Kapitalnachfrage in Folge der Konjunkturverlangsamung hin. Jedoch könnte auch die sich in den letzten Jahren verschlechternde Stimmung an den Kapitalmärkten dazu geführt haben, dass Unternehmen zunehmend auf andere Finanzierungsquellen ausgewichen sind.

Des Weiteren hat in den Neunzigerjahren die Beteiligung der privaten Haushalte an den Aktienmärkten im Euroraum ständig zugenommen. Durch den Verfall der Aktienkurse mussten die privaten Haushalte erhebliche Geldvermögensverluste hinnehmen, wodurch das Verhältnis von Geldvermögen zu verfügbarem Einkommen auf Werte zurückging, die mit denen vergleichbar waren, die Ende 1997 verzeichnet wurden.

Die Kosten, die in den vergangenen Jahren durch die Entwicklungen an den Finanzmärkten verursacht wurden und die oft mit der "New Economy" in Zusammenhang gebracht werden, können auch in einem erheblichen Vertrauensverlust gemessen werden. Fälle von Fehlbilanzierung, unternehmerischer Profitgier und überzogenen Aktienmarktbewertungen begannen sich zu häufen und beschädigten das Grundvertrauen der Anleger in die Finanzmärkte. Es wurde ausführlich darüber diskutiert, ob diese unglücklichen Verhaltensweisen durch den weit verbreiteten Einsatz bestimmter Vergütungssysteme wie beispielsweise Aktienoptionsprogramme gefördert wurden (5). Alan Greenspan brachte dies auf den Punkt: "Die Beteiligung von Führungskräften an Unternehmen über Aktien und Optionen ist durchaus wünschenswert. Diese Entwicklung wird jedoch pervertiert, wenn die Aktienkurse über künstlich überhöhte Ertragsausweise auf hohem Kursniveau gehalten und weiter nach oben getrieben werden." (6)

Francis Fukuyama bezeichnet in seinem Bestseller Trust: The Social Virtues and the Creation of Prosperity das Vertrauen als unschätzbare Grundlage für wirtschaftliche Prozesse, da Vertrauen wirtschaftliche Interaktionen erleichtert und Transaktionskosten senkt. (7) Jüngste Wirtschaftsstudien betonen in zunehmendem Maße, dass das Vertrauen als Sozialkapital für wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand genauso wichtig sein kann wie Sachkapital. (8)

Politische Entscheidungsträger und Aufsichtsbehörden können durch die Verbesserung der Corporate-Governance-Mechanismen dazu beitragen, das Vertrauen in die Finanzmärkte und Rechnungsprüfungsprozesse wiederherzustellen. Maßnahmen, die eine angemessene Kontrolle von unternehmerischem Verhalten fördern und somit zur Wiederherstellung des Vertrauens in Finanzausweise und Kapitalmärkte beitragen, finden meine volle Unterstützung. Letztendlich müssen jedoch die Unternehmen selbst den entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass wieder Vertrauen hergestellt wird. Die Branche muss erkennen, dass man mit schnellen Gewinnen den Ast absägt, auf dem man sitzt. Die Führungskräfte in der Privatwirtschaft haben ein kollektives Interesse daran, hohe ethische Verhaltensstandards zu fördern.

Geldpolitik und Stabilität des Finanzsystems

Die in jüngster Zeit beobachteten starken Kursschwankungen bei den Vermögenswerten weltweit, die in engem Zusammenhang mit dem Aufkommen der "New Economy" standen, haben dazu beigetragen, dass unter den politischen Entscheidungsträgern vermehrt über die Beziehung zwischen der Stabilität des Finanzsystems und der Geldpolitik diskutiert wird. Hierbei stellt sich die Frage, wie die Geldpolitik mit spekulativen Blasen bei den Vermögenswerten umgehen soll, die häufig mit Bedenken hinsichtlich der Stabilität der Finanzsysteme in Zusammenhang stehen.

Im Allgemeinen wird eine bestimmte Situation dann als spekulative Blase bezeichnet, wenn die Preise verschiedener Arten von Vermögenswerten von ihren jeweils zugrunde liegenden Marktwerten abweichen. Blasen bei den Vermögenswerten entstehen dadurch, dass an den Finanzmärkten unvollständige Informationen vorliegen, was zu einer falschen Preisbildung für Vermögenswerte und dann wiederum zu verzerrten Anlage- und Konsumentscheidungen führt. Blasen bei den Vermögenswerten treten häufig im Umfeld eines Regimewechsels auf, der durch weit reichende technologische Innovationen eingeleitet wird und dazu führt, dass eine Reihe von Wirtschaftsakteuren glaubt, ein "neues Zeitalter" habe eingesetzt. In dieser Hinsicht waren die Auswirkungen der "New Economy" auf die Aktienkurse, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, gar nicht so außergewöhnlich.

Dass spekulative Blasen bei den Vermögenswerten in das Zentrum des Interesses gerückt sind und möglicherweise eine verzerrende Wirkung auf Wirtschafts- und Finanzprozesse haben, bedeutet jedoch nicht, dass Zentralbanken die Preise für Vermögenswerte explizit in ihren geldpolitischen Zielkatalog aufnehmen sollten. Diese Idee wird von vielen, wie ich meine zu Recht, abgelehnt. Preise für Vermögenswerte werden in erster Linie durch reale, nicht von der Geldpolitik steuerbare Faktoren wie technische und demographische Entwicklungen und Präferenzen bestimmt.

Die Wirtschaftsakteure sollten außerdem nicht veranlasst werden, auf Basis einer Erwartung zu handeln, die Zentralbanken würden die Finanzmärkte gegen hohe Verluste absichern. Ansonsten käme es zu ernsthaften Moral-Hazard-Problemen, und die Öffentlichkeit würde die Zentralbanken für bestimmte Entwicklungen an den Finanzmärkten verantwortlich machen, beispielsweise für die Performance am Aktienmarkt. Für die Zentralbanken könnte dies bedeuten, dass ihr Ziel der Preisstabilität und damit ihre Glaubwürdigkeit ernsthaft gefährdet würden.

Auch ist es für Zentralbanken sehr schwierig, Blasen an den Finanzmärkten zu identifizieren. Letztlich kann man eine spekulative Blase nämlich immer erst dann mit Sicherheit als solche erkennen, wenn sie geplatzt ist.

Das soll jedoch nicht heißen, dass Entwicklungen an den Finanzmärkten, und insbesondere Blasen bei den Vermögenswerten, für das Verhalten der Zentralbanken nicht von Bedeutung wären. Im Gegenteil. Wir müssen die Bewegungen bei den Preisen der Vermögenswerte beobachten, da sie die Erwartungen hinsichtlich künftiger konjunktureller Entwicklungen widerspiegeln und für den geldpolitischen Transmissionsmechanismus wichtig sind. Zudem müssen Zentralbanken starke Preisbewegungen bei Vermögenswerten wegen ihrer möglichen Rückwirkungen auf die Stabilität des Finanzsystems immer im Blick behalten. In diesem Sinne spielen die Entwicklungen der Preise für Vermögenswerte für unsere geldpolitischen Entscheidungen sehr wohl eine Rolle, soweit sie relevante Informationen über den Zustand der Konjunktur und über die Aussichten bezüglich der Preisstabilität liefern.

In dieser Hinsicht ist unsere geldpolitische Strategie, welche der Geldmengen- und der Kreditentwicklung eine herausragende Rolle als Indikatoren zuweist, von großer Hilfe. Die Wirtschaftsgeschichte hält zahlreiche Beispiele dafür bereit, dass ein starkes Geld- und Kreditwachstum einherging mit Blasen an den Finanzmärkten, deren späteres Platzen dann die Stabilität der Finanzmärkte gefährdet hat.

Abschließend möchte ich allerdings klar festhalten: Der beste Beitrag, den eine Zentralbank leisten kann, um die Entstehung und das Platzen von Blasen zu verhindern, besteht darin, eine Geldpolitik zu verfolgen, die darauf abzielt, Preisstabilität zu gewährleisten, und dadurch zu einem stabilen gesamtwirtschaftlichen Umfeld beiträgt.

Schlussfolgerungen

Lassen Sie mich nun zu den Schlussfolgerungen kommen. Der berühmte englische Ökonom und Essayist Walter Bagehot sagte einmal: "Im tiefsten Inneren seines Herzens bedauert ein echter englischer Gentleman niemals den Tod eines politischen Ökonomen." (9) Diese Aussage wirft nicht nur Fragen über den Stand der Wirtschaftswissenschaften im 19. Jahrhundert auf, sondern auch über die Denkweise eines englischen Gentleman.

Natürlich stellt die zunehmende Bedeutung der neuen Technologien und der Finanzmärkte die Geldpolitik vor neue Herausforderungen. Unterschätzt man diese Herausforderungen, so kann dies teuer werden. Allerdings stehen der Geldpolitik keine einfachen Lösungen zur Verfügung, mit denen sie auf die spekulativen Blasen bei den Vermögenswerten reagieren könnte.

Rückblickend bin ich der Meinung, dass die EZB richtig daran tat, verhältnismäßig vorsichtig zu reagieren, als alle Welt über die "New Economy" sprach. Ich erinnere mich noch zu gut an die Kritik, die uns Ende 1999 entgegen gebracht wurde, als wir unsere Annahmen hinsichtlich des Trends des potenziellen BIP-Wachstums für das Euro-Währungsgebiet nicht korrigieren wollten. Diese Kritiker sind mittlerweile verstummt. Einige von ihnen sind inzwischen sogar in das andere Extrem umgeschlagen und aus meiner Sicht in Bezug auf den Ausblick für das Euro-Währungsgebiet zu pessimistisch geworden.

Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die wirtschaftlichen Kosten der Anpassung an eine extrem optimistische Phase hoch sind. Nun haben wir zwei Jahre lang ein eher verhaltenes Wirtschaftswachstum verzeichnet. Viele der jungen Unternehmen, die Ende der Neunzigerjahre gegründet worden waren, existieren mittlerweile nicht mehr. Doch auch in anderen, eher traditionellen Bereichen mussten die Kosten gesenkt werden, und es waren Strukturanpassungen erforderlich, um die Ungleichgewichte wettzumachen, die sich in den Zeiten des "Booms" entwickelt hatten.

Mit diesen Strukturanpassungen oder, wie Schumpeter ihn nannte, mit diesem "Prozess der schöpferischen Zerstörung" haben sich die Chancen erhöht, dass die Phase des langsamen Wirtschaftswachstums allmählich zu Ende geht. Zwar bestehen noch immer einige Abwärtsrisiken für dieses Szenario, und die fortlaufenden Bilanzanpassungen machen einen deutlichen und schnellen Konjunkturanstieg unwahrscheinlich. Dennoch geht die EZB davon aus, dass sich im Lauf dieses und nächsten Jahres allmählich eine Erholung einstellen wird, da die Ungleichgewichte, die sich aufgebaut haben, allmählich nachlassen. Die EZB wird diese Entwicklungen weiterhin beobachten und dabei besonders ihr primäres Ziel, die Gewährleistung von Preisstabilität im Euroraum, im Auge behalten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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1D. Coyle, The Weightless World: Strategies for Managing the Digital Economy, MIT Press, 1998, S. VII.

2 B. van Ark, Measuring Productivity in the New Economy: Towards a European Perspective, De Economist 148, No. 1, 2000, S. 87-105.

3 D. Erasmus, The Praise of Folly, (Übersetzung von J. Wilson), Great Mind Series, Prometheus Books, 1994.

4Vgl.:"irrational exuberance": A. Greenspan, The Challenge of Central Banking in a Democratic Society, 5. Dezember 1996, Tischrede beim Jahrestreffen und Francis Boyer-Vorlesung des American Enterprise Institute for Public Policy Research, Washington, D.C.: "How do we know when irrational exuberance has unduly escalated asset values, which then become subject to unexpected and prolonged contractions as they have in Japan over the past decade? And how do we factor that assessment into monetary policy?" ; R.J. Schiller, Irrational Exuberance, Princeton University Press, 2000; vgl.: infectious greed: A. Greenspan in seinen Erläuterungen vor dem Ausschuss für Banken, Wohnungen und städtische Belange, U.S. Senat, 16. Juli 2002: "Why did corporate governance check and balances that served us reasonably well in the past break down? At root was the rapid enlargement of stock market capitalisations in the latter part of then 1990s that arguably engendered an outsized increase in opportunities for avarice. An infectious greed seemed to grip much of our business community."

5J.E. Core, W.R. Guay and D.F. Larcker, Executive Equity Compensation and Incentives: A Survey, Federal Reserve Bank of New York, Economic Policy Review, April 2003, S. 27-45.

6 A. Greenspan in his Testimony before the Committee on Banking, Housing, and Urban Affairs, U.S. Senate, 16. Juli 2002; vgl.: A. Greenspan, Stock Options and Related Matters, Vortrag bei der 2002 Financial Markets Conference der Federal Reserve Bank von Atlanta, 3. Mai 2002.

7 P. Maidment, In Nothing We Trust, Forbes Magazine, 7. Januar 2001; F. Fukuyama, Trust: The Social Virtues and the Creation of Prosperity, Free Press, 1995.

8 F. Fukuyama, Social Capital and Civil Society, 1. Oktober 1999, Vortrag bei der IMF-Konferenz über Second Generation Reforms; J. Sobel, Can We Trust Social Capital?, Journal of Economic Literature, Vol. XL, März 2002, S. 139-154.

9In W. Bagehot, Estimates of some Englishmen and Scotchmen, 1858.

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